Christines Gesichtsdiskrepanzen

Wenn ich morgens aufstehe und mich im Spiegel sehe, schaut mich da jemand an, der absolut nicht «ich» bin. In tiefen Höhlen verstecken sich die Augen hinter einem hervorstehenden Stirnknochen. Die Nase ragt dominierend über alles ins Zentrum und gibt eine Härte, welche so gar nichts mit mir zu tun hat. Auch dieser breite Kiefer und die tiefen Falten geben mir den Eindruck, als ob da Charles Bronson persönlich anwesend sei.

Ein Gesicht aus früherer Zeit, als ich noch im Körper eines Mannes leben musste. Mit einer Frau hat all das gar nichts zu tun. Dies stimmt mich dann sehr traurig und deprimierend, denn mittlerweile sind viele Diskrepanzen durch die Hormontherapie, die geschlechtsangleichende OP, den Brustaufbau, die Anpassung der Stimme und die Entfernung der männlichen Haare aufgehoben.

Doch das Gesicht hat sich leider nicht verändert. Noch immer ist da dieser Mann zu sehen. Wenn ich mich dann schminke, kann ich mir für eine kurze Zeit eine Art Vexierbild zusammenbasteln und mir mit viel Vorstellungskraft eine gewisse Weiblichkeit vorgaukeln. Doch die Wirkung hält meist nicht lange an.

Es braucht viel zu viel Energie, dieses Bild aufrecht zu erhalten, Energie, die ich für die Arbeit und die alltäglichen Aufgaben bräuchte. Diese stetige Belastung ist zu einem ernsthaften Hindernis geworden.

Stets schwebt da diese Diskrepanz über mir wie ein Geier, der nur darauf wartet, im richtigen Moment zuzuschlagen, und mich bei lebendigem Leib zu verspeisen. Mein Leben ist eine Gratwanderung geworden, ich dachte, dass ich nach den oben beschriebenen Schritten nun frei sei, entronnen aus dem Gefängnis, das dieser männliche Körper für mich war. Doch da ist diese letzte Hürde, die es noch zu überwinden gilt. Denn nur durch die Entfernung dieser männlichen Merkmale kann ich wirklich ein Leben als Frau führen. Wenn ich jedoch an diesem Punkt stehen bleibe, sind all die vorherigen Bemühungen in Frage gestellt.