Tanjas Gesichtsdiskrepanzen

Adamsapfel

Mein Adamsapfel sticht heraus. Es heißt, dieser sei bei Männern zu sehen, weil sie von der verbotenen Frucht des Baums der Erkenntnis probiert hätten. Ich habe nichts von der Frucht probiert, aber erkenne auch ohne diese je gekostet zu haben, dass ich gezeichnet werde als etwas, was ich nicht bin und nie war. Er begleitet mich bei jedem Schluck. Ist immer im Weg. Wie ein Fels trotzt er allen weiblichen Aspekten. Ich nehme ihn wahr wie einen Pickel, der direkt unmissverständlich auf der Nase sitzt. Wartet man, geht der Pickel weg! Mein Mal bleibt. Ich trage meist ein Tuch um den Hals. Das tue ich auch, wenn es draußen 33 Grad sind.

Stirn

Die hohe Stirn und die gorillaartigen Vorsprünge über den Augen sind nicht weniger markant als der Kehlkopf. Mir wurde immer und immer wieder als Christian gesagt, wie gut ich aussehe. Ist es der goldene Schnitt zwischen all den Erhebungen, die einen echten Mann ausmachen? DIE machen in ihrer Erscheinung einen echten Mann aus! Ich bin kein Mann.

Wie passt das? Mit dieser Diskrepanz laufe ich seit meiner Pubertät durch die Welt. Ich kann den Umstand nicht verdecken. Wie ich es mit meinem Adamsapfel tue. Das Dreidimensionale ist auch hier wieder Thema. Diese Makel durchbrechen das Glatte und das Weiche, was die Hormone haben entstehen lassen.

Kinn

Mein Kinn ist in den letzten 20 Jahren breiter geworden. Das wäre auch die Jahre als Cis-Frau passiert. Doch ist bei mir die Ausgangslage unter dem Testosteron und die lange Zeit, ich bin jetzt 43 Jahre alt, leider nicht so einfach rückgängig zu machen. Wenn ich in den Spiegel schaue, sehe ich dieses riesige Kinn. Es steht da und wartet vergebens. Es wartet vergebens darauf, ein Teil eines Männergesichts zu sein.

Augenbrauen

Ich zupfe meine Brauen, damit sie feine weibliche Formen bekommen. Leider kann mich das nicht über den festen Überaugenwulst hinwegtrösten, der wie bei einem Primaten oder Urmenschen mein Gesicht entstellt. Diese stabilisierende Verdickung durchbricht meine weich gezupften Augenbrauen. Wie ein Elefant, der sich hinter einem viel zu dünnen Grashalm zu verstecken versucht.

Lippen

Meine Lippen sind so tief wie die Sonne an einem Herbstnachmittag. Ich sehe, wenn ich mich wieder auf diesen goldenen Schnitt beziehe, dass die Position dieser Lippen viel zu niedrig im Gesicht und unausgeprägt sind. Keine Frau auf dieser Welt hat solche Lippen, geschweige an dieser Stelle. Und kein Mann würde selbst die, rot gemalt, küssen wollen. Sie sind ein schmales Nichts, welches im unteren Bereich durch das Kinn und im oberen Bereich durch die Augenvorsprünge und seitlich durch die eckig, kantigen, Kiefer eines Typen begrenzt werden.

Kiefer

Mein Kiefer ist so kantig wie ein ungehobeltes Brett. Der Gegensatz von kantig ist doch rund, oder? Das ist eben nicht das, was die Menschen sehen, wenn sie mich anschauen. Sie sehen mit weiblichen Pölsterchen bedeckte Ecken und Kanten, die bei jedem Biss noch kräftiger hervorstehen als sie es ohnehin schon tun. Der Kiefer durchdringt immer die zarte Oberfläche. Der Kiefer passt nicht zu dem recht femininen Körper. Wenn ich von hinten gesehen werde, gehe ich vermutlich als Frau durch. Sobald ich mich umdrehe, fällt das Bild in Millisekundenschnelle. Auch hier nutze ich meinen ständigen Begleiter, meinen Schal.

Fazit

Ich war letztens auf eine Geburtstagsfeier eingeladen. Ich wusste, die meisten sind unbekannte Menschen für mich. Ich hatte ziemlich Angst davor, auf diese Party zu gehen, weil mir bewusst war, dass viele nicht Tanja sehen – sondern Christian. Ich habe mir überlegt, wie ich dem Ganzen entgehen könnte. Eine Möglichkeit war kurzfristig, sehr kurzfristig: ich stand mit dem Auto schon auf dem Parkplatz der Lokalität und wollte absagen. Dabei ging mir durch den Kopf, was jetzt die Alternative zu einem festlichen Abend ist, an dem ich vielleicht ungewollt eine Hauptrolle einnehme. Durch die kalte Stadt laufen? Ich hatte definitiv die falsche Jacke dabei. Ein Kindermädchen war schon engagiert zu Hause. Die Kinder waren versorgt und ich hätte nicht wieder nach Hause gehen können. Die andere Möglichkeit war, auf die Party zu gehen und das Gesicht zu verlieren. Das ist es doch. Das ist eigentlich das, was ich möchte! Zumindest vom alleinigen Inhalt her, nicht von der Bedeutung, wie es umgangssprachlich gebraucht wird. Ich möchte nicht gedemütigt werden. Nicht angestarrt als etwas Außergewöhnliches. Nicht als Exot. Ich möchte erkannt werden. Erkannt als Frau und nicht als Typ, der verkleidet ist. Ich möchte in der Masse Frau sein. Nicht wie ein schräger Vogel oder eine Dragqueen auf einer Feier ausgelassener Betrunkener. Das Gesicht verlieren. Damit könnte ich mich arrangieren. Es ist nicht meines. Etwas, was mir nicht gehört, kann ich verlieren, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben. Es gehört nicht zu mir. Es entstellt mich. Macht mich zu etwas, was nicht ich bin. All die männlichen Attribute, die das Testosteron über die Jahre ausgebildet hat. Es passt nicht zu meinem Inneren. Wie das Gesicht eines Fremden.

Die persönlichen und sozialen Auswirkungen dieses geschlechtlichen Gesichtsdilemmas sind fatal/verhängnisvoll.

Ich bin eine Frau. Leider passiert es mir immer wieder, dass die Menschen mir gegenüber einen Mann sehen. Sie sind freundlich. Wirken aber irritiert. Schauen ein, zwei, dreimal nach..., ob sie sehen, was sie sehen. Die Blicke fahren hoch von den Füßen angefangen über die Knie, Beine, Bauch, Brust und Enden starrend auf dem Gesicht – „Das Gesicht verlieren“. Auch sie kennen die Situation ... es ist wie ein abscannen an der Supermarktkasse, wenn die Kassiererin die Ware zwei-, dreimal über das Glasfeld ziehen muss, weil der wichtige Pieps nicht kommt. Dieser würde die Ware registrieren. Manchmal scheint die Ware nicht in der Datenbank vorhanden zu sein. Es kommt kein Pieps. So oft wie das Produkt auch über den Scanner gezogen wird. Die Kassiererin muss die Ware per Zahlencode eingeben und genau schauen, dass sie sich nicht vertippt. Die Kasse weiß erst dann, was aus dem Haus geht und was in Rechnung gestellt werden soll. Ich fühle mich in einer solchen Situation dann auch etwas wie ein Produkt, das in der Datenbank des Menschen fehlt. Der Pieps oder der Blick registriert bei dem Menschen gegenüber auch etwas. Wenn er denn überhaupt kommt?!

Das falsche Geschlecht. Oder Gedanken, sie hätten einen Menschen vor sich, der offensichtlich ein Problem hat. Ich passe nicht in die bestehenden Schubladen. Irgendwie vom Äußeren nicht binär. Nicht Eins, nicht Null. Weder Fisch noch Fleisch. Ich gehöre nicht dazu. Das macht es mir täglich schwer, selbstbewusst und stolz unterwegs zu sein. Es ist immer wieder wie ein Schlag ins Gesicht. Wo wir wieder beim Thema wären. Das Gesicht verlieren. Ich bin nicht mit den gängigen Mustern der Mitmenschen konform. Die sehen manchmal einen Mann, der aber behauptet, eine Frau zu sein. Wer hat nun Recht? Wer entscheidet über diesen Umstand? Mich blockieren diese Situationen. Meine Stimme fängt an, zu beben, und die Leichtigkeit ist beschwert – wie einbetoniert. Ich werde geerdet von etwas, was ich nicht abschütteln kann. Etwas, das ich nicht ändern kann. Nicht durch meine Stimme, meine Kleidung, meinen Schal, meine Schminke, mein Auftreten, mein ICH. Ich bin manchmal hoffnungslos. In einer Sackgasse, aus der ich nicht herauskomme. Nicht aus eigener Kraft.