Alexias Bio

Man hört ja immer wieder Selbstbeschreibungen von der folgenden Art: „Ich wusste schon als Kind im Alter von 4 Jahren, dass ich eigentlich ein Mädchen bin und wollte viel lieber mit Puppen spielen und zum Fasching eine Prinzessin sein ... ." Ich wusste: „Nein, bei mir nicht“.

Tatsächlich war es eher so, dass Selbstbeschreibungen wie diese später erhebliche Selbstzweifel in mir wecken sollten, welche meine eigene Entscheidung zur Transition eineinhalb Jahrzehnte nach hinten verschoben.

Ich war nie ein Mädchen „im Körper“ eines Jungen beziehungsweise eine Frau „im Körper“ eines Mannes. Ich war überhaupt keine Person in irgendjemandes Körper. Ich war immer einfach nur ich. Und dieses Ich und mein Körper waren immer dasselbe. Wenn ich in den Spiegel blickte, sah ich einen Jungen, weil „Puller-Haben“ gleichbedeutend war mit „Jungesein“. Das war die Definition, die ich als Kind lernte und erst über 20 Jahre später revidieren konnte.

Und bis zur Einschulung war das okay, denn in erster Linie war ich einfach nur Kind. Mein Leben war so voll mit anderen Diskrepanzen, dass die geschlechtliche Diskrepanz ganz nach hinten rückte. Die meiste Zeit über, vom Strampler-Alter bis heute, quälte mich eine ausgeprägte Koumpounophobie (bzw. eher die Knopfleisten an meiner Kleidung), welche anfangs deutlich stärker war als die Körperdiskrepanz.

Dennoch, gute 30 Jahre später, nach meinem Coming-Out, wird die Mutter meiner Mutter mir erzählen, dass ich mich im Kleinkindalter nie besonders jungenhaft verhalten hätte. Meine sechs Jahre jüngere Schwester erschien ihr wesentlich jungenhafter als ich.

In der ersten Klasse wurden für mich offensichtliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern deutlich. Während ich die anatomischen Merkmale schon lange kannte, bewirkten andere Dinge, wie die plötzlich differenzierten Kleidungsstile, Farben, Frisuren, eine mir neue Emotion: Neid. Bis auf eine Kleinigkeit: Alle Mädchen trugen Blusen. Mit Knöpfen. Igitt. Bah. Bloß nicht! Aus meiner damaligen Sicht hatte die Welt einige unverrückbare, nicht hinterfragbare Regeln, welche eine Tatsache schufen: Das, was ich wollte, nämlich Mädchen sein, ging einfach nicht. Jungen waren Jungen und Mädchen waren Mädchen. Und mein sehnlichster Wunsch befand sich in einer Kiste zusammen mit ungezählten anderen Fantasiegeschichten über Zaubern oder Fliegen können, über Meerjungfrauen und Einhörner und ferne Länder mit seltsamen Kreaturen.

Neun Jahre später, zu meiner Jugendweihe, bekam ich, ebenso wie alle anderen meines Jahrgangs, ein Buch geschenkt: „Zwischen nicht mehr und noch nicht“. Es war eine Sammlung von Geschichten, welche eine riesige Bandbreite von Pubertätsproblemen abdeckten, angefangen bei Liebe und ersten sexuellen Erfahrungen, Problemen in der Familie, Homosexualität ... und ein Kind welches von sich sagte: „Ich bin ein Mädchen im Körper eines Jungen“.

Diese Geschichte war eine Offenbarung. Die Regeln waren offensichtlich doch nicht so unverrückbar, wie es schien. Dennoch half es mir damals nicht wirklich, denn ich war kein irgendwas in einem Wasauchimmer-Körper! Ich war und bin einfach nur ich. Ich sitze nicht in meinem Kopf und lege Hebel um und drücke Knöpfe, damit sich meine Beine bewegen. ICH laufe. Ich weiß nicht mehr, wie oft ich diese Geschichte, über ein Kind, das sagen konnte was es wollte und Akzeptanz fand, gelesen habe. Bewegt hat sie mich jedenfalls immens.

Vielleicht hätte ich diese Introspektion weiterführen und schon damals zu der Erkenntnis gelangen können, die sich mir später mit einer Verzögerung von weiteren 14 Jahren wie ein Faustschlag in den Magen graben werden. Aber ich hatte gravierendere Probleme. Kleinwüchsig, körperlich schwach, introvertiert – ich war die perfekte Zielscheibe für Mobbing seitens anderer aus meiner Klasse und sogar höherer Klassen. Egal ob Mädchen oder Jungen. In so einem Umfeld eine derartige Änderung anzustreben, ging einfach nicht. Ich war mit meinem Leben sehr unzufrieden, aber nicht lebensmüde.

Meine Eltern entschieden sich, mich auf eine Privatschule zu schicken, um mich aus dieser Hölle zu befreien. Die Probleme in der Schule ließen langsam nach, während sie sich zu Hause steigerten. Wie konnte ich meinen Eltern jetzt auch noch dieses Problem aufdrücken, wenn sie selbst schon so viele eigene hatten? Abgesehen davon war ich jetzt von diesem immer präsenten Gefühl von "Es-ist-zu-spät" erfüllt. Mein Bartwuchs war da, meine Stimme zerbrochen, meine Oma lobte bei jedem Besuch meine breiten Schultern und wirkte dabei so glücklich, dass es mir physisch weh tat. Jedes Mal ein Nadelstich in meiner Brust.

Ich versuchte gelegentlich zu crossdressen, versuchte mir, die Haare wachsen zu lassen, was dank falscher gelernter Technik („Du musst die Haare zweimal täglich gründlich durchbürsten“) und fehlender Beratung („Du hast nunmal so drahtige Locken. Die werden immer wie eine große runde Mütze auf deinem Kopf sitzen“) immer wieder gehörig misslang.

Also gab ich auf und stürzte mich in eine Anzahl von Männerdomänen. Man kann doch lernen, Mann zu sein, nicht wahr?! Bundeswehr, Berufsausbildung, Monteursjob, Bart wachsen lassen ...

Es reicht!

Im Alter von 27 hatte ich genug. Ich hasste jeden Blick in den Spiegel. Im neu entdeckten Internet fand ich eine kleine Rollenspieler-Gemeinschaft, in der ich zumindest virtuell etwas und jemand sein konnte, in dessen Haut ich mich wohl fühlte. Und ich fand neue Freunde, denen meine Empfindungen weder fremd waren noch verrückt vorkamen. Ich schmiss meinen Job hin und begann ein Studium, um zumindest in eine Domäne zu gelangen, in der ich mich vielleicht androgyn geben könnte. Alles wäre besser als bis zur Rente in einem Umfeld zu stecken, in der alle Abgründe von „Männlichkeit“ „kultiviert“ würden.

Ich ließ meine Haare wieder wachsen, fest entschlossen, sie zu bändigen und wenn ich jede Strähne einzeln bügeln müsste! Mein Internet-gestützter Freundeskreis wuchs. Und ich lernte eine Frau kennen, die Ähnliches durchgemacht hatte wie ich. Nur hatte sie zehn Jahre früher die Reißleine gezogen und eine Transition durchgeführt. Sarah entwickelte sich zu meinem Idol. Ich lernte unglaublich viel von ihr.

Ich war 29, als ich noch einmal tief in mich ging und eine Transition erwog. Meine letzte Hasenfüßigkeit brachte mich dazu, es vielleicht doch sein zu lassen. Ich sah mich als Mann altern, meine Haare auf dem Kopf zu verlieren und an allen anderen Körperstellen zu bekommen, eine Bauchplautze zu entwickeln, bis zu meinem Tod mit einem schrumpelig werdenen Sack zwischen den Beinen herumzulaufen und niemals das Gefühl echter Brüste an mir erfahren zu können.

In diesen Minuten begann ein Punkt in meiner Magengegend zu brennen. Das Brennen wuchs und nahm gefühlt einen faustgroßen Bereich ein. Es schmerzte physisch. Ich wusste sofort, dass mein eigener Körper gegen mich rebellierte. Vier Tage hielt das Brennen an. Ich konnte kaum etwas essen und verlor in diesen Tagen fast 5kg an Gewicht. Aber: Ein Arzt war nicht nötig. Ich wusste genau, was ich tun musste um nicht in demnächst abzukratzen. Und ich tat es, weil ich unbedingt leben wollte: Ich gab mir selbst das Versprechen, die Transition durchzuziehen und dass mein 30. Geburtstag mein letzter sein sollte, den ich noch als Mann begehe. Mein Körper akzeptierte den Deal und das Brennen verschwand beinahe augenblicklich.

Kurz vor Weihnachten überlegte ich nur noch einmal. Ein kurzes Hitzegefühl in meiner Magengegend bestätigte mir, dass ich mich an den Plan halten würde. Oder sonst. Als ich dann beim Weihnachtsessen im kleineren Familienkreis den zufriedenen, Gans-gefüllten und entspannten Menschen am Tisch meinen Plan eröffnete, glaubte ich, fast das Fallen von Unterkiefern auf den Fußboden hören zu können. Es gab Ausdrücke der Überraschung (Schwester: „Für einen Moment dachte ich, du würdest sagen, dass du schwul bist“ – „Hehe... Sorry?“), Ausdrücke der Verleugnung (Mami: „Du hattest doch nie irgendwelche Anzeichen dafür gezeigt!?“ – „Eigentlich schon. Doch.“) und es gab Versuche, mich zu entmutigen (Onkels Freundin: „Bist du sicher? Du hast ein seeeeehr männliches Gesicht. Das klappt nie!“ – „Danke vielmals? Aber deine Perspektive ist auf chinesische Männer geeicht. Gegen die sieht selbst Claudia Schiffer aus wie Conan der Barbar. Ich werde schon klarkommen.“)

Es sollten noch zwei Jahre ins Land gehen, bis ich a) wirtschaftlich unabhängig war, b) eine eigene Wohnung beziehen konnte und c) endlich einen Psychiater fand, der leider notwendig war, um Zugang zur Hormontherapie zu bekommen. Das Magenbrennen trat trotzdem nie wieder auf, denn meine Entscheidung stand fest und mein Versprechen gegenüber mir selbst galt noch immer, auch wenn ich die "Frist" nicht einhalten konnte.

Als ich endlich beginnen konnte, war die Psychotherapie extrem nervig. Ich wusste, was ich brauchte. Ich hatte bereits begonnen, meine weibliche Seite zu entfalten, weiterzuentwickeln und reifen zu lassen. Wozu also der Alltagstest? Alles, was ich wollte, war Östradiol, um mein Aussehen zumindest tiefer in den androgynen Bereich zu bewegen, um später vielleicht mehr Akzeptanz zu finden, wenn ich es dann offiziell machen würde. Diese "Therapie" empfinde ich auch im Nachhinein noch als unnötig. Zwar konnte der Psychiater mir einige Beratungen geben aber nichts davon war etwas, das mir nicht auch die Community hätte sagen können. Das waren teilweise Bagatellen, wenn ich zum Beispiel wissen wollte, ob es rechtliche Probleme bei der Toilettenbenutzung ohne Personenstandsänderung geben könnte oder auch größere Dinge, wenn ich wissen wollte, wie andere ihr Coming Out am Arbeitsplatz durchführen und welche Fehler ich vermeiden sollte.

Der ganze andere Kram, wie ich meine Zeit im Kindergarten, in der Schule, im Berufsleben erlebt habe, was ich die letzten vier Wochen seit dem letzten Termin getan habe, wie mein Liebesleben aussieht ... sinnlos. Außerdem musste ich für einen Termin an einem frühen Nachmittag knapp 100km nach München fahren, was Zeitverschwendung, Fahrkosten und vor allem Ermüdung bedeutete. Und ich musste dazu jedes Mal bei der Arbeit mühsam aufgebaute Gleitzeitstunden verbrauchen.

Allerdings musste ich feststellen, dass sogar die nichtmedizinische Umstellung meines Lebens vieles bewirkte: Ich konnte mich viel besser entfalten. Meine Gesichtszüge wurden weicher. Ich fing an, femininer auszusehen, obwohl meine Hormonspiegel immer noch im männlichen Normbereich lagen. Natürlich war das nichts im Vergleich zu dem, was erst durch die Hormontherapie entstand, wobei diese lange Zeit brauchte, um zu ersten Ergebnissen im inneren Empfinden zu führen und ich auch jetzt, zwei Jahre nach Beginn nach weiteren Optimierungsmöglichkeiten suche und das Brustwachstum – eigentlich DIE wichtigste der körperlichen Veränderungen, die ich mir wünsche – ausbleibt.